Unser Leben hat sich radikal verändert. Zumindest für alle, die keine misanthropischen Einsiedler sind und gerne das kulturelle Leben genießen. Friedrichshain-Kreuzberg ist der flächenmäßig kleinste Berliner Bezirk, ist am dichtesten besiedelt und hat das geringste Durchschnittsalter. Im Partykiez Friedrichshain Süd wird Hedonismus groß geschrieben. Wie der Shutdown hier gelebt wird, ist sehr unterschiedlich. Wie er sich anfühlt, ist eindeutig.
Shutdown in Berlin Friedrichshain
F’hain lebt von Bars, Shops und Clubs, von Kunst, Kultur und Spaß und feiern. Seit dem Shutdown liegen Läden hinter dunklen Scheiben. Essen gehen gehörte zum Alltag, das kulinarische Angebot ist riesig. Vor allem (vegane) asiatische Restaurants sprossen hier in den letzten Jahren aus dem Boden wie Unkraut (nach dem Techno-Strich in der Revaler Straße ist der Boxi-Kiez mittlerweile der Veganer-Strich). Alles zu und nur zur Abholung geöffnet. Immerhin versorgt noch die übliche Armee orangefarbener Fahrradfahrer die Anwohner mit Futter. An bekannten Aufenthaltsorten von Obdachlosen (wie zum Beispiel dem Wismarplatz) entstanden Gabenzäune mit Klamotten und Lebensmitteln. Es herrscht merklich weniger Verkehr, die Polizei patrouilliert und immer mal wieder kreisen Hubschrauber über den Dächern.
Doch bei schönem Wetter wirkt es auf den ersten Blick um den Boxhagener Platz nicht anders als sonst. Die Straßen sind voll mit Leuten, oft mit einem Wegbier in der Hand. Der Boxi wurde Ende März geräumt und abgesperrt, weil 150 Menschen auf der Wiese saßen. Kurze Zeit später war das rot-weiße Flatterband durchgerissen und die ersten Grüppchen ließen sich wieder dort nieder. Das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei gehört zur Friedrichshainer Mentalität, hier lässt man sich vom Staat nichts vorschreiben. Doch warum wir uns mit solchen Aktionen gerade massiv ins eigene Fleisch schneiden, habe ich hier geschrieben.
Besonders nachts ist der Shutdown zu spüren: Der Kiez rund um die Partymeile Simon-Dach-Straße liegt in der Dunkelheit, nur wenige Menschen sind unterwegs. Es herrscht eine bedrückende Stille, die man sonst eher aus winterlichen Morgenstunden bei Minusgraden kennt. Es ist deprimierend. Das Highlight des „Nachtlebens“ ist der alltägliche Applaus um 21 Uhr von den Balkonen (immerhin inklusive Jubelschreie), um den Helfern in der Corona-Krise zu danken.
Insgesamt gehen die Menschen hier sehr unterschiedlich mit der Situation um. Es gibt die, die mit Masken oder improvisierten Nase-Mund-Bedeckungen unterwegs sind. Dann gibt es die, die von alldem Wahnsinn noch nichts mitbekommen zu haben scheinen. Wie zum Beispiel meine Nachbarn, die mir regelmäßig von der letzten Nacht übrig geblieben mit Sonnenbrille und einem Kasten Bier entgegenkommen. Oder die, die einem auf der Straße oder im Supermarkt auf die Pelle rücken. Diese Ambivalenz ist echt schräg.
Shutdown-Alltag als F’hainer
Glücklicherweise muss ich diese Zeit weder alleine noch in einer Einzimmerwohnung ertragen. Ich kann den Umständen entsprechend normal im Home Office weiterarbeiten. Nach ein paar Wochen habe ich lediglich mit einem drohenden digitalen Burnout zu kämpfen, zu viele E-Mails, zu viele Videocalls und gefühlt 20 Stunden pro Tag auf den Bildschirm starren.
Normalerweise fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit und lasse mir das „frische“ Stadtlüftchen durchs Haar wehen. Momentan krabble ich aus dem Bett ein paar Meter weiter zu meinem Tisch. Immerhin schaffe ich es noch zu duschen und mir etwas anzuziehen, was ich auch im Büro tragen würde (mal sehen, wie lange noch).
Anstatt spontan einkaufen zu gehen, wenn man etwas braucht, heißt es nun: planen und sich vorbereiten. Nase und Mund verhüllen, Handschuhe an und die Einkaufsliste so gestalten, dass man nicht nach zwei Tagen wieder in die „Virengefahrenzone Supermarkt“ muss. Durch die Einlassbeschränkung von maximal 50 Personen heißt es meistens Schlange stehen und warten, bis der Türsteher einen in den Laden lässt. Drinnen herrschen in manchen Regalen dank Hamsterspacken nach wie vor apokalyptische Zustände. Klopapier, Bio-Eier, Mehl und Haferflocken zu bekommen ist wie ein Sechser im Lotto. Schwer verfügbare „Luxuswaren“ und polizeiliche Überwachung – so ungefähr könnte es sich hier vor dem Mauerfall angefühlt haben.
In meiner Mietskaserne wird gerne mal gefeiert oder lautstark Sex gehabt. Das sind die vertrauten Geräusche, wenn es mal lauter wird. Seit dem Shutdown hängen nahezu alle zuhause rum und versuchen, ihren Alltag irgendwie weiterlaufen zu lassen. Die einen hopsen wie irre durch die Bude und machen Sport, andere reden lautstark (vermutlich im Videochat mit Freunden) oder drehen die Glotze auf. Anstrengend.
Das frühlingshafte Wetter erschwert die Bedingungen für eine mentale Gesundheit. Das einzig sinnvolle in dieser Zeit ist raus in die Natur zu fahren. Doch das gestaltet sich schwierig ohne Auto, wenn man die Virenschleuder Nummer eins aka die Öffis vermeiden sollte. Mal eben in der Sonne um den Block zu gehen ist eher anspannend als entspannend. Es ist einfach zu viel los. Auf den wenigen Wiesen, die F’hain zu bieten hat, herrscht reges Getummel, es wird Tischtennis gespielt oder die Nase gen Himmel gestreckt. Wer einen sonnigen Balkon oder gar einen Garten hat, kann sich glücklicher schätzen denn je.
Am meisten schmerzt der Verlust der Freiheit
Zuhause eingesperrt zu sein ist die eine Sache. Was mir wirklich zusetzt, ist der Verlust der Freiheit. Hier zu Leben bedeutet, 24 Stunden am Tag das tun zu können, worauf man Lust hat. Eine Stadt, die niemals schläft. Haste nachts um drei Bock auf einen frisch gemachten Burger, bekommst du ihn. Möchtest du morgens um fünf in die nächste Bar, hast du diverse zur Auswahl (von den Clubs ganz zu schweigen). Sonntags einkaufen? Auch kein Problem.
Corona hat uns all das genommen. Freunde treffen, einkaufen und essen gehen, ohne Bedenken etwas auf die Kralle holen und draußen abhängen – all das ist gerade nicht mehr möglich. Ich kann es kaum abwarten, wieder in Bars zu sitzen und Blödsinn zu quatschen. Auf Konzerte zu gehen und am Wochenende in einem Club abstürzen, wenn mir danach ist. Vor allem bei den beiden letzteren befürchte ich, dass es in diesem Jahr nicht mehr möglich sein wird.
Die Lebensader von Berlin wurde gekappt, die Stadt versank in einem Schleier der Fadheit und das Berliner Lebensgefühl liegt im künstlichen Koma.
Hey, aber es gibt auch positive Seiten.
Friedrichshain ist nicht mehr überfüllt. Das liegt natürlich an den Ausgangsbeschränkungen, aber vor allem an den fehlenden Touristen, die massenweise jedes Wochenende zu Spottpreisen aus der ganzen Welt hier einfliegen und abfeiern. Weniger Autos und Lkws verpesten die Luft und machen Krach; man schläft mehr, da man abends nicht ausgehen kann – und wir haben nach der Krise alle ein schöneres Zuhause.
Generell lerne ich gerade vieles wieder zu schätzen und werde einiges nachholen, was ich zuletzt dröge vor mich herschob.
Was ich mir für nach dem Shutdown wünsche
Ich würde mir wünschen, dass die Menschen generell etwas zur Ruhe kommen und ihren Konsum und übertriebenes Rumgereise zurückschrauben. Für F’hain konkret, dass der Easyjet-Wahnsinn ein Ende nimmt.
Vielleicht rentieren sich einige der wirklich unnötig vielen Hotels, Hostels und Airbnb-Butzen nach dem Shutdown nicht mehr und sie könnten in etwas sinnvolles wie bspw. bezahlbare Studentenwohnheime und Wohnungen umgewandelt werden.
Cool wäre auch, wenn Menschen sich rücksichtsvoller in der Stadt bewegen und einen gesunden Abstand halten würden (natürlich weniger als 1,50 Meter).
Weniger Verkehr auf den Straßen! Das würde unsere Lebensqualität massiv verbessern.
Nun bleibt mir für heute nur noch zu sagen: Haltet durch und bleibt gesund. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns.
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